17.04.2023 | AG Frieden

Krieg ist Teil des Systems: Warum sollte man sich trotzdem für Frieden einsetzen?

Claudia Nelgen, Friedensaktivistin und Mitglied bei der AG Frieden, gab dem Trierischen Volksfreund ein Interview zur Friedensarbeit in Zeiten des Krieges. Das Interview führte Christian Kremer.

Krieg ist Teil des Systems: Warum sollte man sich trotzdem für Frieden einsetzen?

Trier · Ist der Ukraine-Krieg eine Zeitenwende, wie die Politik es an vielen Stellen behauptet? Oder sind bewaffnete Konflikte nicht vielmehr Teil eines weltweit ausufernden Kampfes um Ressourcen? Ein Interview mit einer Friedensaktivistin in Zeiten des Krieges.
04.04.2023, 10:46 Uhr 8 Minuten Lesezeit

Die Zeiten sind deprimierend. Russland führt einen Angriffskrieg mitten in Europa. In etlichen anderen Weltregionen gibt es weitere bewaffnete Konflikte. Trotzdem setzen sich – gerade an Ostern – Tausende Atomwaffen- und Kriegsgegner traditionell für den Frieden ein. Der TV hat sich deshalb mit Claudia Nelgen unterhalten. Die Friedensaktivistin aus dem Kreis Trier-Saarburg, die sich bei der Anti-Atom-Bewegung und der Arbeitsgemeinschaft Frieden in Trier engagiert, zeichnet ein düsteres Zukunftsbild, sollte sich die Welt nicht radikal ändern. Doch sie hat auch Hoffnung.

Die Ostermärsche sind für die Friedensbewegung traditionell wichtig. Haben diese Veranstaltungen eine Bedeutung für Sie, und haben Sie sich auch beteiligt?

Claudia Nelgen: Eher selten. Das Problem ist, dass ich das Ziel des Engagements zwar zu hundert Prozent teile, es selbst aber zu kurz greift. Appelle an die Politik ändern nichts an den Ursachen, die zu den Problemen führen.

Sie meinen also: Demonstrationen auf der Straße allgemein sind nicht das Mittel Ihrer Wahl?

Nelgen: Klar, wenn zig Millionen Menschen auf die Straße gingen, bliebe das nicht ohne Folgen. Aber zumeist ist es ja nicht mal ein winziger Bruchteil davon, und damit können höchsten Impulse gesetzt werden. Es kann gezeigt werden: Wir wollen das nicht, wir kritisieren das. Aber: Das Veränderungspotenzial ist gering. Es sind die Wirkmechanismen in Politik und Wirtschaft, die das Lösen der furchtbar drängenden Probleme, die wir auf diesem Planeten haben, verhindern. Das erfahren wir doch ständig.
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Und was folgt daraus?

Nelgen: Die Rufe nach Frieden und Klimarettung treiben mir schon manchmal die Tränen in die Augen, weil ich denke: ‚Ihr wendet euch an diejenigen, die doch genau die Spielregeln befürworten, die die Zerstörung unaufhaltsam vorantreiben.’

Wie definieren Sie denn Ihre Position?

Nelgen: Hm, die Alternative wäre Kriegsaktivistin … Also, das ist nicht so mein Ding. Krieg gehört nicht zu meinen Grundbedürfnissen, Frieden schon.

Aber Ihre Form des Aktivismus ist es nicht, auf die Straße demonstrieren zu gehen, oder?

Nelgen: Ich mache da schon ab und an mit, weil ich denke, dass wir nichts anderes haben. Aber es ist ein bisschen frustrierend, im Hinterkopf zu haben, dass man sich zwar für das Gute einsetzt, aber an den Ursachen des Krieges nichts oder sehr wenig ändert.

Sie sind Aktivistin und gehen nur selten auf die Straße. Wie agieren Sie dann?

Nelgen: Ich bin beispielsweise bei Ihnen, um mit Ihnen darüber zu sprechen.

Sie suchen also die Öffentlichkeit?

Nelgen: Eher bin ich generell auf der Suche. Es ist schwierig, so ein aufgeheiztes Thema wie diesen Krieg im Speziellen oder das des Kapitalismus im Allgemeinen so anzugehen und rüberzubringen, dass Fakten und sachliche Analysen im Vordergrund stehen.

Nun hat sich der Blick auf die Welt durch den russischen Angriff auf die Ukraine stark verändert. Inwiefern hat sich das auf den Friedensaktivismus ausgewirkt?

Nelgen: Das war ein Paukenschlag, ganz klar. Aber es ist schon seltsam, wie wenig nach den Gründen gefragt wird, die zu diesem Krieg geführt haben, oder nach den Ursachen von Kriegen überhaupt. Wer Frieden will, kommt aber nur so weiter. Da schält sich dann heraus, dass Kriege zu den Mitteln des wirtschaftlichen Konkurrierens gehören, denn es geht um geostrategische Einflussnahme, um Ressourcen, Kontrolle, Absicherung und vor allem Vorteile auf dem globalen Markt.

Geht es denn nicht auch um Werte?

Nelgen: In politischen Entscheidungen in der Regel nicht. Aber Werte werden gerne vorgeschoben, wenn es darum geht, ein politisches Prozedere akzeptabler werden zu lassen oder eine politische Entscheidung als richtig zu verkaufen.

Einen klassischen wirtschaftlichen Kriegsgrund – wie beispielsweise die Ölreserven im Nahen Osten bei den Irak-Kriegen – gibt es doch in der Ukraine nicht, oder?

Nelgen: Die Gründe für diesen Krieg kann jeder und jede mit Internetzugang selbst eruieren. Reden, dokumentierte Gespräche, Verträge und deren Aufkündigung, konkrete geopolitische Schritte … Das sind Fakten. Wer nach Gründen fragt, findet hier viel Material, sich ein objektiveres Bild zu machen. Aber man muss das halt auch wollen.

Aber sehen Sie Russland nicht als Aggressor?

Nelgen: Auf dieses Spiel des Richtens lasse ich mich nicht ein. Jeder soll ein moralisches Urteil abgeben und sich auf eine Seite schlagen. Putin-Hasser, Putin-Freunde, die Werte des Westens müssen verteidigt werden und so weiter … Damit kommen wir nicht weiter.

Trotzdem wird auch in den Nato-Staaten wieder viel in die Rüstung investiert und die Front im Osten neu eröffnet. Alle rufen nach Panzern und Jets für die Ukraine. Das muss doch für jemanden, der sich für eine friedliche Welt einsetzt, ganz schlimm sein …

Nelgen: Der ganze Kurs geht in eine Richtung, die äußerst bedrohlich ist. Schon vor diesem Krieg wurde aufgerüstet. Da fasst man sich nur an den Kopf, wie viel Intelligenz, Wissen, Technologie und Arbeitskraft in die potenzielle Vernichtung der Menschen investiert wird. Und wie viel von alldem, um genau das zu verhindern? Es ist bizarr und grausig. Aber aus der Logik des Systems heraus betrachtet ist es folgerichtig.

Aber was sind aus Ihrer Sicht die Gründe für Kriege? Zuletzt im Irak, in Afghanistan, Syrien oder der Ukraine. Eigentlich gibt es ja permanent Krieg auf der Welt …

Nelgen: Seit Beginn der Industrialisierung gibt es eine stetige Zunahme. Das spricht für sich.

Einerseits liegt das daran, dass die Welt enger zusammenrückt. Aber Sie sehen ja auch im System eine Ursache. Ist es die Wachstumslogik des Kapitalismus?

Nelgen: Richtig. Und diese Wachstumslogik ist absolut resistent gegen Veränderungen. Sie verhindert all das wirkungsvolle Gegensteuern, das so dringend gebraucht wird, etwa beim Klima. Wir können da mit offenen Augen und voller Verzweiflung zuschauen, wie sich praktisch nichts tut. Es ist schon so: Entweder das Ganze wird verändert oder wir bleiben Opfer der systemischen Logik, zu der eben auch Kriege gehören.

Sehen Sie denn keine unterschiedlichen Kulturen und Einflusssphären, die aufeinander prallen – zum Beispiel den Westen und den Fernen Osten, die muslimische und die westliche Welt, Industrie- und Schwellenländer und so weiter?

Nelgen: Was da in unserer Zeit vor allem aufeinander prallt, sind die nationalen Wirtschaftsinteressen. Aber um den Bürger, die Menschen bei der Durchsetzung dieser Interessen mitzunehmen, muss man sie bei ihren Emotionen packen. Und die haben kulturelle Wurzeln. Genau das spielt sich doch auch bei diesem Krieg jetzt wieder ab!

Wie kann man denn aus Ihrer Sicht die Gewaltspirale stoppen, die es im Kampf um Ressourcen auf der Welt gibt?

Nelgen: Ich weiß nicht, ob es eine schwierigere Frage gibt. Aber darüber muss man sich wohl klar sein: Wenn hier nicht radikal etwas geändert wird, sind die Aussichten sehr, sehr düster. Dann wird auch der Teil der Menschheit, der überlebt, kein gutes Leben haben. Erst wenn sich diese Erkenntnis durchgesetzt hat, kann man darüber nachdenken, die Welt anders zu organisieren.

Doch wie soll das funktionieren?

Nelgen: Wir haben, was Wissen und Technologie angeht, Möglichkeiten wie nie zuvor, die kapitalistische Wirtschaft durch eine herrschaftsfreie, wahrhaft demokratische und intelligent organisierte Wirtschaft zu ersetzen, die gleichzeitig der Natur ermöglicht, sich zu regenerieren.

Das ist eine Utopie. Aber es gibt ja weitere Konflikte auf der Welt – zwischen China und Taiwan – und Nordkorea droht weiter mit Atombomben. Haben Sie da überhaupt noch Hoffnung für die Menschheit?

Nelgen: Wenn es so weitergeht: Nein! Es entstehen neue Blöcke mit rigoroser Außenpolitik. Der Westen sucht neue Märkte, weil Russland und China sich zusammentun. Es werden weitere Fronten entstehen, verstärkt noch durch all die Folgen der Erderwärmung.

Doch was ist der Gegenentwurf zu Blöcken und Einzelstaaten, die nach immer mehr streben? Eine kooperative Weltregierung gibt es nicht. Hilft die UNO weiter?

Nelgen: Die UNO erfüllt ihren Zweck, die Welt zu befrieden, nicht gerade zufriedenstellend. Krieg als Mittel zum Frieden ist bei ihr auch kein Widerspruch. An der Konkurrenz zwischen den Staaten ändert sie jedenfalls nichts.

Warum setzen Sie sich angesichts dieser deprimierenden Weltsicht trotzdem für den Frieden ein?

Nelgen: Ich komme wenigstens mit den Menschen zusammen, die sich für die richtigen Ziele einsetzen. Wie die zu erreichen sind, darüber muss noch viel geredet werden. Falls uns die Zeit dafür bleibt.

Das Gespräch führte Christian Kremer.