12.01.2020 | Arbeitskreise & Projektgruppen

Interview mit Praktikantin Selina Dahler zur Erinnerungsarbeit

Selina ist 18 Jahre alt und hat in den Sommerferien für eine Woche ein freiwilliges Ferienpraktikum bei der AG Frieden absolviert. In diesem Rahmen hat sie Einblicke in die Arbeit des Arbeitskreises Trier im Nationalsozialismus erhalten und beantwortet nun im Interview einige Fragen.

1. Selina, Du warst mit Deiner Schule in der Gedenkstätte A.-Birkenau. Kannst Du zwei-drei Punkte nennen, die Dich dort besonders berührt haben?

Zunächst einmal habe ich den Ort als so überwältigend empfunden, dass es mir schwer fällt,da einzelne Punkte festzumachen, die mich besonders mitgenommen oder berührt haben. Auschwitz weckt eine ganze Bandbreite an Gefühlen. Wut, Trauer, Unverständnis… Das ist aus meiner Sicht auch das Entscheidende an diesem Ort als Gedenkstätte. Die Fakten kennt man schließlich aus dem Geschichtsunterricht. Ich wusste, was in Auschwitz und in den zahllosen anderen grausamen Konzentrations- und Vernichtungslagern geschehen ist. Aber ich habe es bis zu diesem Besuch nicht richtig gespürt. Ich kann mich zum Beispiel noch sehr lebendig an einen Ausstellungsraum erinnern, in dem Koffer von Opfern ausgestellt waren, die diese in dem Irrglauben mitgebracht hatten, sie später noch zu brauchen. Oder Kinderschuhe. Berge von echten Frauenhaaren. Da sind nicht nur mir die Tränen gekommen. Auch die Besichtigung der ehemaligen Gaskammern (bzw. deren Überresten) fand ich eindrucksvoll und beängstigend zugleich. Da kommt in mir ein großes Unverständnis auf. Fassungslosigkeit. Wut. Ich frage mich immer noch, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun konnten.

2. Einige Politiker*innen fordern, alle Schüler*innen sollten verpflichtend solche Gedenkstätten besuchen. Wie denkst Du darüber?

Das ist eine gute und zugleich schwierige Frage. Wir haben sie uns im Nachgang auch gestellt. Und ich finde, darauf eine Antwort zu finden ist gar nicht so leicht. Vom pädagogischen Standpunkt her ja. Ich denke, dass Auschwitz das Potenzial hat, wesentlich tiefer in das Bewusstsein einzudringen als der Schulunterricht. Fakten und Zahlen, erlerntes Wissen vergisst man wieder. Auschwitz vergisst man nicht. Wenn man etwas fühlt, bleibt das in Erinnerung. Und das halte ich für sehr, sehr wichtig.

Aber ich glaube, so einfach ist es nicht. Denn ich habe mich in Auschwitz mit Blick auf einige andere Schulgruppen auch gefragt, mit welcher Motivation einige hergekommen sind. Nicht alle haben sich aus meiner Sicht angemessen verhalten. Einige waren laut, andere mehr mit ihren Smartphones beschäftigt. Haben Selfies vor den Baracken gemacht. Da stellt sich mir die Frage nach der Würde des Ortes. Auschwitz ist nicht nur ein Ort des Lernens für die Zukunft, sondern auch ein Ort der Erinnerung und des Gedenkens an die Opfer der Vergangenheit. Das gilt aus meiner Sicht für alle Gedenkstätten dieser Art. Für einige Schüler kann das vielleicht, so traurig das klingt, schon zu viel verlangt sein.

Ich finde es daher sehr schwierig, pauschal auf diese Frage zu antworten. Was ich aber sagen kann: Es müsste mehr werden, ja. Und jede Schülerin, jeder Schüler sollte Zugang zu solchen Gedenkstätten haben. Das ist noch lange nicht überall der Fall. An unserer Schule war es die erste Auschwitz-Fahrt seit vielen Jahren, nur möglich dank des außergewöhnlichen Engagements unserer beiden Lehrer.

3. Kanntest Du vor Deinem Praktikum eigentlich die AGF und die Erinnerungsarbeit, die wir machen?

Ich kannte den Weltladen und ich wusste auch, dass es die AG Frieden gibt. Die Erinnerungsarbeit und die Projekte der AGF waren mir allerdings im Detail nicht bekannt. Schade eigentlich, dass junge Menschen so wenig über diese tollen und wichtigen Projekte wissen. Ich denke, ich spreche da für viele andere Menschen meines Alters.

4. Warum ist es für Dich als junger Mensch wichtig, an die Nazi-Zeit zu erinnern? Kommt diese Vergangenheit gefühlt nicht gleich nach Napoleon?

Gefühlt? Ja. In Wirklichkeit? Nein! Und da ist aus meiner Sicht der Knackpunkt. Die Diskrepanz zwischen Gefühl und Realität gerade bei jungen Menschen ist sehr groß. Ich will mich selbst da gar nicht ausschließen. Es fühlt sich oft an, an wüchse der Frieden auf Bäumen. Als seien Demokratie und Freiheit Naturgesetze. Uns ist nicht bewusst, dass die Zeit des Nationalsozialismus erst 75 Jahre zurückliegt. Wir kennen es ja schließlich nicht anders. Man muss sich aber vor Augen führen, dass die aktuelle Friedensperiode in Europa die längste Friedenszeit dieser Art überhaupt ist. Und damit nicht selbstverständlich, sondern außergewöhnlich und schätzenswert. Ich finde, es sollte bei Erinnerungsarbeit nicht nur um Vergangenes gehen. Nein – Wir müssen Verantwortung für die Zukunft übernehmen. Ein Bewusstsein für unsere Aufgabe als kommende Generation schaffen. Ich sehe es als unser aller Pflicht an, die freiheitlich-demokratischen Werte nicht nur zu akzeptieren, sondern auch aktiv zu schützen und zu bewahren. Für unseren Traum vom Frieden müssen wir etwas tun. Dazu hat mich der Rückblick in die NS-Geschichte zusätzlich bewegt. Weil ich gesehen habe, wie schnell es gehen kann. Man muss die Vergangenheit kennen, um die Zukunft zu gestalten.

5. Wie denkst Du, sollte Erinnerungsarbeit passieren, damit auch junge Menschen davon angesprochen werden?

Ich denke, da gibt es ganz vielfältige Wege. Zunächst einmal kann es natürlich hilfreich sein, junge Menschen selbst in die Erinnerungsarbeit mit einzubinden, die dann wiederum ihre eigene Peer Group besser und direkter erreichen. Es könnte beispielsweise Stadtrundgänge geben, die von älteren Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit gestaltet und/oder durchgeführt werden. Das wirkt mit hoher Wahrscheinlichkeit ansprechender auf junge Menschen als z.B. Vorträge „von oben“. Die Hemmschwelle sollte aus meiner Sicht möglichst niedrig gehalten werden, damit junge Leute auch mitmachen.

Sicherlich ist es auch wichtig, mit der Erinnerungsarbeit, die junge Menschen ansprechen soll, eine Botschaft auszusenden, das über das reine Erinnern an Vergangenes hinausgeht. Wir als junge Generation haben schließlich unser Leben noch vor uns. Da schaut man eher in die Zukunft als in die Vergangenheit. Man sollte sich also fragen: Was sagt uns die NS-Zeit heute noch? Wo sind Parallelen und mögliche Gefahren unserer Zeit, denen es aufmerksam und kritisch zu begegnen gilt? Und wie können wir Verantwortung für die Zukunft übernehmen?

6. Du hast eben an einem Treffen des Arbeitskreises “Trier im Nationalsozialismus” der AGF teilgenommen. Wie fandest Du’s?

Obwohl ich gestehen muss, dass ich nicht alle regionalen Zusammenhänge sofort verstanden habe, hat mir das Treffen wirklich gefallen. Was mich vor allem freut, ist, dass hier, anders als z.T. in der Politik, konkrete Projekte geplant und umgesetzt werden. Das gilt im Übrigen für die gesamte AGF. Ich finde sehr wichtig, dass Erinnerungsarbeit vor allem auch regional stattfindet. Im Geschichtsunterricht erfährt man die großen Zusammenhänge, aber der lokale Bezug fehlt oft komplett. Damit bleibt das Thema eher theoretisch und wenig greifbar. Da leistet der Arbeitskreis glaube ich gute Arbeit, dass sich das ein wenig ändert. Mich hat wirklich erstaunt, dass so viel Arbeit in die Trierer Erinnerungsarbeit gesteckt wird. Es ist schön zu sehen, dass es Menschen gibt, die sich dafür in ihrer Freizeit ehrenamtlich einsetzen.

7. Im Arbeitskreis  sind Menschen aktiv, die deutlich älter sind als Du. Ist so ein Arbeitskreis, der auf Jahre hin angelegt ist, das passende Format, wo junge Menschen sich engagieren wollen? Wenn nicht, könntest Du Dir ein Projekt vorstellen, das Schüler*innen und Studierende interessieren könnte?

Ich persönlich könnte mir durchaus vorstellen, mich hier auch über das Praktikum hinaus weiter einzubringen, denn ich halte das Engagement im Arbeitskreis NS für einerseits sehr wichtig (Was wäre, wenn es niemand tun würde…?) und andererseits auch horizonterweiternd. Allerdings glaube ich auch, dass die Mehrheit der Menschen in meinem Alter davon eher abgeschreckt werden, weil das Bildungsgefälle recht groß ist und dadurch eine Hemmschwelle bestehen könnte, sich im AK NS zu engagieren. Auch ich habe mich anfangs gefragt, ob ich als Schülerin hier überhaupt mithalten und einen Beitrag leisten kann. Diese Ängste wurden mir allerdings genommen.

Ansonsten ist ja bereits die Idee einer Stadtführung von jungen Leuten für junge Leute aufgekommen. Natürlich erfordert auch das ein längeres Dabeibleiben und eine gute Einarbeitung, aber das wäre eine mögliche Idee. Insgesamt ist mir persönlich wichtig, dass die Erinnerungskultur nicht mit der nächsten Generation einschlafen darf. Der Nationalsozialismus wird immer weiter in die Ferne rücken, Gras wird über die historischen Plätze wachsen, aber was bleibt, ist die Botschaft. Und die dürfen wir nicht vergessen. Auf einer Gedenktafel in Auschwitz stand: „Those who cannot remember the past are condemned to repeat it.” – Diejenigen, die ihre Vergangenheit nicht erinnern können, sind dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Danke, Selina, vielen Dank für das Interview mit Dir! (Das Interview hat Thomas Zuche geführt)