11.06.2019 | AG Frieden

ATOMKRIEGSRISIKO STEIGT von Karl Hans Bläsius und Jörg Siekmann

Durch die Kündigung des INF-Vertrages steigt die Eskalationsgefahr, eine neues Wettrüsten droht, die Gefahr eines Atomkrieges wächst. In folgendem fundierten Artikel verdeutlichen zwei Wissenschaftler aus Trier die zusätzlichen Risiken durch den Klimawandel und von computergestützten Frühwarn- und Entscheidungssystemen – die Gefahr eines Atomkrieges aus Versehen ist aktuell dramatisch gestiegen.

Atomare Bedrohungen

Seit dem ersten Einsatz einer Atombombe in Hiroshima besteht die Angst vor einem Atomkrieg mit verheerenden Folgen, die sogar zum Auslöschen aller höheren Lebensformen auf diesem Planeten führen können.

Einen Höhepunkt erreichten die gegenseitigen atomaren Drohungen in den 1980er Jahren, als auf der Basis eines „NATO-Doppelbeschlusses“ neue Mittelstreckenraketen mit extrem kurzen Vorwarnzeiten stationiert wurden. Dies führte zu heftigen Protesten der Bevölkerung und zu großen Demonstrationen der Friedensbewegung, die enormen Zulauf erhielt.

Sicherlich hat diese Friedensbewegung auch dazu beigetragen, dass diese Risiken stärker in der Bevölkerung und auch in der Militärführung selbst bewusst wurden: ab Mitte der 1980er Jahre kam es zu erfolgreichen Abrüstungsverhandlungen und einer weltweiten atomaren Entspannung. 1987 wurde der INF-Vertrag geschlossen und von Reagan für die USA und Gorbatschow für die Sowjetunion unterzeichnet. Diese und weitere Abrüstungsvereinbarungen zwischen den USA und der Sowjetunion führten zu einer Reduzierung ihrer Atomwaffen von 70.000 auf circa 15.000.

Neues Wettrüsten

In den letzten Jahren wird jedoch in verschiedenen Ländern wieder verstärkt am Ausbau und an der Modernisierung von Nuklearwaffen gearbeitet und auch der INF-Vertrag von 1987 ist inzwischen von beiden Seiten gekündigt worden. Die USA und Russland werfen sich gegenseitig vor, den Vertrag zu verletzen und es droht ein neues Wettrüsten.

Seit Anfang 2018 haben die USA eine neue Militärdoktrin, die einen Erstschlag mit Atomwaffen nicht mehr ausschließt. Sie gestattet den USA auch bei signifikanten nicht-nuklearen strategischen Angriffen – dazu können auch Cyberangriffe gehören – eine Gegenreaktion mit Atomwaffen auszuführen. Auch in der russischen Militärdoktrin ist im Kriegsfall der Einsatz von Atomwaffen zu einem frühen Zeitpunkt vorgesehen und im Oktober 2018 hat Putin mit sehr drastischen Worten bekräftigt, dass sein Land einen vernichtenden atomaren Gegenschlag ausführen wird, falls sich herausstellen sollte, dass sein Land angegriffen wird.

Atomkriegsuhr

Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hatten Atomwissenschaftler eine sogenannte „Atomkriegsuhr“ (Doomsday-Clock) eingerichtet, um auf die Gefahr eines drohenden Atomkriegs hinzuweisen. Der Uhrzeiger wird einmal jährlich im Januar von einer Kommission bestehend aus Atomwissenschaftlern, Nobelpreisträgern und anderen international anerkannten Wissenschaftlern gestellt und der jeweilige Zeigerstand und die Gründe dafür werden im „Bulletin of the Atomic Scientists“ veröffentlicht. Je näher die Uhr an die 12 gestellt wird, desto größer wird das Risiko eingeschätzt und die erste Einstellung erfolgte 1947 mit 7 Minuten vor 12.

Nach dem ersten erfolgreichen Test von Wasserstoffbomben rückte die Uhr 1953 auf 2 Minuten vor 12 vor und im Höhepunkt des Kalten Krieges 1984 zeigte die Uhr 3 Minuten vor 12. Bei der anschließenden Entspannung wurde die Uhr um 14 Minuten zurückgestellt jedoch seit 2018 steht die Atomkriegsuhr wieder bei 2 Minuten vor 12 und dieser Stand wurde im Januar 2019 bestätigt.

Das heißt, die Kommission urteilt, dass das Risiko eines Atomkriegs noch nie höher war als heute und begründet dies mit der gegenwärtigen Modernisierung der Nuklearwaffen durch die wichtigsten Atommächte. Zudem ist durch den Klimawandel und die damit verursachten Verschlechterungen der Lebensbedingungen in vielen Regionen, insbesondere denen, die unter der Überbevölkerung leiden, erhebliches neues Konfliktpotential entstanden. Die Risiken, dass es zu einem atomaren Konflikt kommen kann, sind heute wieder so groß oder bereits größer als zu den Zeiten des Kalten Krieges.

Frühwarn- und Entscheidungssysteme

Die militärische Lage im Zeitalter von Atomwaffen ist durch die sogenannte „Zweitschlagsfähigkeit“ gekennzeichnet, das heißt bei einem Angriff muss der Angreifer mit einem atomaren Gegenschlag rechnen, der ihn selbst vernichten würde. Bei einem massiven Angriff mit Atomwaffen könnten jedoch die eigenen Raketensilos und eventuell auch die militärische Infrastruktur und politische Führungsebene getroffen und soweit ausgeschaltet werden, dass eine Gegenreaktion nicht mehr möglich ist. Die „Zweitschlagsfähigkeit“ wäre also gefährdet.

Deshalb versuchen die Atommächte eine Infrastruktur aufzubauen, so dass die eigenen Raketen gestartet werden könnten, ehe die eines Gegners einschlagen. Eine solche Strategie wird als „launch on warning“ bezeichnet.

Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass ein gegnerischer atomarer Angriff als solcher erkannt wird und um dies zu erreichen, wurden entsprechende hochkomplexe computergestützte Frühwarn- und Entscheidungssysteme (FWES) aufgebaut. Sie bestehen im Wesentlichen aus folgenden Komponenten:

  • Sensoren zur Feststellung eines atomaren Raketenangriffs,
  • Computerzentren und Kommunikationsnetzwerken zur Analyse und geschützten Übermittlung von Daten,
  • Kommandostellen zur Bewertung von Warninformationen und der Gefährdungslage sowie zur Planung und Anordnung von Gegenreaktionen.

Solche Frühwarnsysteme sind riesige komplexe Systeme die natürlich selbst fehleranfällig sind und dann zu Falschmeldungen über Raketenangriffe führen können. In der Vergangenheit ist dies auch häufig geschehen und hat wiederholt gefährliche Alarmzustände ausgelöst. Fehler die zu einer höheren Alarmstufe führten sind z.B. durch

  •  Fehlinterpretation von Sensorsignalen durch die aufgehende Sonne,
  •  Simulation eines Angriffs zu Testzwecken ohne das Personal zu informieren,
  •  Hardware-Fehler

ausgelöst worden

Siehe http://www.fwes.info/fwes-19-2.pdf  und in Englisch: http://www.fwes.info/fwes-AGF-19-1-en.pdf

Bei der Bewertung von Alarmmeldungen besteht also das Problem, dass die Ausgangsdaten der Sensoren, die Übertragung der Daten oder die automatische Auswertung fehlerhaft sein können. Trotzdem müssen Entscheidungen zu möglichen Gegenreaktionen innerhalb kürzester Zeit getroffen werden. Ganz besonders problematisch ist, wenn bestimmte Ereignisse zufällig zeitlich zusammentreffen. Dann können kausale Zusammenhänge angenommen werden, die gar nicht bestehen.

Wenn es aufgrund eines Fehlalarms zu einer Erhöhung der Alarmstufe kommt, wird dies auch auf der Gegenseite registriert und kann damit auch dort zu einer Erhöhung der Alarmstufe führen. Dies wird wieder registriert und so kann es zu unkontrollierbaren Alarmierungsketten kommen, die in sehr kurzer Zeit ablaufen und durch Menschen nur schwer kontrollierbar sind.

Während in früheren Krisensituationen ein militärischer Angriff wochen- oder monatelang vorbereitet wurde und vom Gegner in der Zeitspanne leicht erkennbar war, ist die Reaktionszeit heute extrem kurz: Interkontinentalraketen können den Gegner nach einer Flugzeit von 30 Minuten treffen, U-Boot-gestützte Raketen in noch kürzeren Zeiträumen und die Stationierung von Mittelstreckenraketen verkürzt diese Zeitspanne noch einmal mehr in den Minuten- oder sogar Sekundenbereich. Im Falle einer Angriffsmeldung durch ein Frühwarnsystem bleibt also kaum Zeit für eine sorgfältige Evaluation, aber ein Abwarten bis zum Einschlag könnte dazu führen, dass keine Gegenreaktion mehr möglich ist.

Vor diesem Hintergrund gab es in den 80er Jahren bereits Drohungen, dass bei einem durch ein Frühwarnsystem erkannten Angriff ein Gegenschlag automatisch durch eine Computerentscheidung ausgelöst werden soll, da ohnehin kaum eine ernsthafte – durch Menschen geprüfte – Entscheidung möglich ist. Formal muss jedoch der Präsident letztlich die Entscheidung treffen.

Die Gefahr, dass in Friedenszeiten isoliert auftretende Fehler in einem Frühwarn- und Entscheidungssystem zu einem Atomkrieg führen, ist jedoch relativ gering, solange den handelnden Personen halbwegs vertraut werden kann und die politische Situation stabil ist.

Doch wenn:

  • eine politische Krisen- oder Konfliktsituation vorliegt,
  •  mehrere Ereignisse gleichzeitig eintreten,
  •  Alarmierungsketten initiiert werden,
  •  die Zweitschlagfähigkeit gefährdet ist

dann ist die Gefahr, dass Fehler und Fehleinschätzungen einen Atomkrieg auslösen könnten, real und kann situationsbedingt sogar sehr hoch sein.

Dieses Risiko einer Fehleinschätzung galt bereits in Zeiten des Kalten Krieges in den 1980er Jahren. Heute kommen jedoch weitere Gefahren hinzu:

  • Angriffe durch Cyberattacken
  • Teilentscheidungen durch Systeme der Künstlichen Intelligenz in einem FWES, die in der Regel in der kurzen Zeit nicht überprüft werden können. Die Bewertung von eventuellen Fehlalarmen wird dadurch erheblich schwieriger und die Wahrscheinlichkeit, dass mehrere Ereignisse gleichzeitig eintreten, wird größer. Insbesondere kann es zwischen Cyberattacken und dem FWES der Nuklearstreitkräfte Wechselwirkungen geben, die unvorhersehbar und unbeherrschbar sind.

Risiken durch den Klimawandel

Aufgrund des Klimawandels und dem damit verbundenen Druck durch Klimaflüchtlinge wird das Risiko für Krisensituationen in Zukunft deutlich steigen. Daher werden seit 2007 auch der Klimawandel und Fortschritte bei den internationalen Vereinbarungen zur Begrenzung der globalen Erwärmung bei der Einstellung der Atomkriegsuhr berücksichtigt. Der Klimawandel wird dazu führen, dass verschiedene Regionen durch Hitzewellen oder durch den Anstieg des Meeresspiegels unbewohnbar sind.

Dies bedroht vor allem viele Regionen in Afrika und Asien:

  • In Asien sind die großen Flussdeltas durch den Anstieg des Meeresspiegels betroffen, in denen mehr als 200 Mio. Menschen leben.
  • In Afrika werden extreme Hitzewellen nach einem Bericht der Max-Planck-Gesellschaft vom 29. April 2016 dazu führen, dass Teile von Nordafrika und dem Nahen Osten unbewohnbar werden können. Mehr als 500 Millionen Menschen leben dort, die bereits jetzt vom Klimawandel stark betroffen sind.

Wenn in größerem Umfang Menschen ihre Heimat verlassen müssen, weil sie in Folge des Klimawandels unbewohnbar ist, wird dies zwangsläufig zu politischen Krisen, Spannungen und vielleicht auch kriegerischen Auseinandersetzungen führen. Ähnliches gilt für den Kampf um immer knapper werdende Ressourcen wie Wasser oder Rohstoffe, die von den Industrienationen benötigt werden.

Damit werden auch die Gefahren steigen, die von computergestützten Frühwarn- und Entscheidungssystemen ausgehen, denn Alarmmeldungen in derart angespannten Situationen werden viel eher ernst genommen und könnten so leichter zu einem Atomkrieg aus Versehen führen.

Dieser Artikel wurde für die Friedenspost der AGF 1-2019 geschrieben und dort veröffentlicht, hier im Netz wurde er schon im Februar 2019 vorab veröffentlicht.

Wir danken den Autoren Karl Hans Bläsius, und Jörg Siekmann