18.07.2023 | Arbeitskreise & Projektgruppen

Atomkrieg – mögliche Folgen

In Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wird immer wieder spekuliert, ob dieser Krieg zu einem Atomkrieg eskalieren kann. Hierbei wird in der Regel versucht, die Gründe und Folgen entsprechender politischer Entscheidungen zu erfassen und daraus Schlüsse zu ziehen. Das Räsonieren verbleibt jedoch im Abstrakten – soll heißen: die tatsächlichen Auswirkungen eines solchen Krieges werden nicht vergegenwärtigt oder schlicht ausgeblendet.
In diesem Artikel wird dargestellt, mit welchen Konsequenzen zu rechnen ist, sollte das Unerwartete eintreten: der Atomkrieg.
Zu den Risiken gibt es hier mehrere Artikel: https://atomkrieg-aus-versehen.de/ukraine-krieg-atomkriegsrisiko/

Die Katastrophe und das Vorstellungsvermögen
Die Entwicklung eines Krieges nach dem Ersteinsatz von Atomwaffen ist nicht kalkulierbar. Es könnte beim Einsatz einer einzigen Atomwaffe bleiben oder zum Einsatz von einigen wenigen kommen. Es könnten aber auch viele Atomwaffen in mehreren Staaten und Kontinenten eingesetzt werden oder die Situation könnte zu einem umfassenden weltweiten Atomkrieg eskalieren. Geschichtliche Erfahrungen, die hier zu Rate gezogen werden könnten, um diesbezügliche politische und militärische Entwicklungen besser einzuschätzen, gibt es keine. Bei den bisher einzigen Atomwaffeneinsätzen 1945 hatten nur die USA Atomwaffen und brauchten keine Gegenreaktion zu fürchten.

Wer sich die Folgen eines Atomkriegs vorzustellen versucht, dem kommen vermutlich eben diese beiden US-Kernwaffeneinsätze in Hiroshima und Nagasaki in den Sinn. In verschiedenen Filmen und auch literarisch sind die Auswirkungen, die es in Hiroshima gab, eindrücklich dargestellt. Kommt es heutzutage zu einem Atomkrieg, wären die tatsächlichen Auswirkungen allerdings erheblich gravierender. Zum einen müsste mit einem Schlagabtausch zwischen Atommächten gerechnet werden, so dass es in verschiedenen Regionen der Erde zum Einsatz von Kernwaffen käme. Zum anderen ist die Sprengkraft vieler Atomwaffen ungleich höher als 1945, was sowohl ihren Zerstörungsradius ausweitet als auch den Umfang der radioaktiven Kontamination. Des Weiteren könnte ein größerer Atomkrieg zu einem nuklearen Winter mit erheblichen klimatischen Folgen führen.

Unser derzeitiges Vorstellungsvermögen hat es daher trotz des Anschauungsmaterials aus dem Jahr 1945 nicht leicht damit, sich einen Begriff davon zu machen, wie sich ein Atomkrieg auf unser aller Leben auswirken würde. Doch gibt es eine Reihe von Studien und Simulationen, die es ermöglichen, durchaus ein Bild davon zu zeichnen, was im Folgenden versucht wird. Wir beschränken uns dabei auf die Auswirkungen allein auf den Menschen; werden diese ersichtlich, versteht es sich von selbst, in welchem Ausmaß auch die Tierwelt und im weitesten Sinne die gesamte organische Welt betroffen ist.

Die physikalischen Abläufe und ihre unmittelbaren Folgen (1)
Bei der Explosion einer Kernwaffe werden in Bruchteilen einer Sekunde ungeheure Energiemengen frei, die das Epizentrum im Millionen-Celsius-Bereich aufheizen. Dies hat zweierlei Auswirkungen:
Zum einen entsteht ein weißglühender Feuerball, der alle Luft in sich aufsaugt und sich damit augenblicklich ausdehnt, so dass er wie ein Heißluftballon in die Höhe steigt. Wird die Bombe in Bodennähe gezündet, werden durch den Saugvorgang außerdem große Mengen von Feststoffen (Erde, Staub, Schutt, Trümmer) aufgenommen, die zusammen mit den Bombenmaterialien zu einem besonders heißen Gas verdampfen und kondensieren. Dabei werden sie stark radioaktiv kontaminiert. Abhängig von der Explosionsstärke kehren sie ab den nächsten 15 Minuten als radioaktiver Niederschlag aus mehreren Kilometern Höhe zur Erde zurück. Dieser Fallout kann bis zu 24 Stunden anhalten und verteilt sich – je nach den Wettergegebenheiten und der vorherrschenden Windströmung – über ein entsprechend großes Gebiet.
Im Epizentrum bleibt nichts zurück, was auf Leben rückschließen ließe. Alles ist wie ausradiert.

Zum anderen entsteht eine gewaltige Druckwelle mit einer Geschwindigkeit, die für den Bruchteil einer Sekunde die von Schallwellen um ein Vielfaches übertrifft. Sie verdichtet die Luft und treibt sie nach allen Seiten vom Explosionszentrum fort. Zwar nimmt die Stärke der Welle mit der Entfernung zur Detonationsstelle ab, doch kann sie auch in großer Entfernung noch von starker Zerstörungskraft sein.

Generell gilt: Die Geschwindigkeit der Druckwelle und das Ausmaß der Zerstörungskraft hängen ab von der Größe der Bombe, deren Detonationsfähigkeit und von der Höhe, in der sie gezündet wird. Mittels der interaktiven Karte „Nukemap“(2) lässt sich erkunden, welche Auswirkungen bestimmte Kernwaffenformate in einem gewählten Gebiet haben. (3) Der durch die Druckwelle beförderte Feuerball entfacht nun auch innerhalb eines zweiten Radius seine tödliche Kraft. Die Druckwelle dehnt sich rasant aus und lässt augenblicklich und im gesamten Umkreis Gebäude einstürzen und Fenster bersten. Glas und Trümmerteile werden zu tödlichen Geschossen. Mit der Druckwelle mitgerissen wird die bei der Detonation entstandene gigantische Hitze, die die Menschen regelrecht verkochen und ihre Kleidung Feuer fangen lässt. Das Inferno wird noch verstärkt durch augenblicklich explodierende Benzintanks, Gaskessel, Heizungsanlagen und Raffinerien.

Die meisten Menschen verbrennen sofort. Andere sterben unter den Trümmern oder werden von umherfliegenden Objekten getötet. Viele sind überdies erblindet, da bei der Detonation Energie auch in Form von Licht freigesetzt worden ist und sich in einem Lichtblitz entladen hat. Der immens hohe Grad an ionisierter Strahlung löst durch die sofortige Zerstörung und Schädigung von Nerven Desorientierung aus; die Menschen fallen innerhalb von Sekunden oder Minuten ins Koma und sterben am Totalausfall des Nervensystems. Zu all dem kommt, dass der Luft der Sauerstoff entzogen wird und sie sich mit Asche, Rauch und Verbrennungsgasen füllt. Dies ist auch der Grund, weshalb in dem bisher beschriebenen Sektor des Geschehens die Überlebenschancen selbst für diejenigen, die sich rechtzeitig in unterirdische Atombunker begeben haben, gegen null tendieren.(4)

Es folgen Radien, die nach Stärke der Druckwelle bemessen werden und innerhalb derer die thermische Wärmestrahlung relativ zur Entfernung vom Epizentrum abnimmt. Im dritten Radius führt die Glut indessen noch unmittelbar zu Verbrennungen dritten Grades. Ist sie zuvor schon auf brennbares Material gestoßen (siehe oben), kann dies zu einem sich selbstverstärkenden, durch Thermowinde weiter entfachten gigantischen Feuersturm führen, der noch lange über das Abklingen der Druckwelle hinaus besteht und noch mehr Menschen durch brennende und einstürzende Gebäude tötet oder in Fahrzeugen verbrennen lässt. Schätzungen zufolge erliegt innerhalb des dritten Radius die Hälfte der Menschen ihren Verbrennungen und Verletzungen.(5, 6)
Darüber hinaus kommt es zum gefürchteten radioaktiven Fallout mit seinen zusätzlichen Folgen nicht nur für die Überlebenden, sondern auch für diejenigen, die bis zu tausende von Kilometern jenseits der Detonationsstelle leben.

Die Kontaminierung ist damit eine auf lange Zeiträume angelegte. Erde, Luft und Wasser sind weiträumig und über viele Jahre hinweg verseucht. In Pflanzen und Tieren konzentrieren sich radioaktive Isotope, die über die Nahrungskette in den Menschen gelangen, so dass dieser nicht nur äußerlich auf Dauer der Strahlenbelastung ausgesetzt ist, sondern auch innerlich durch das Einatmen, Trinken und Essen von kontaminierten Partikeln.
Zu einer dramatischen Potenzierung der ohnehin schon verheerenden Folgen von Kernwaffendetonationen kann es überall dort kommen, wo Kernkraftwerke im
Wirkungsbereich der Detonation liegen. Innerhalb der ersten Radien ist damit zu rechnen, dass die Reaktoren innerhalb kürzester Zeit explodieren. Liegen sie im Umfeld, kann die
Kühlung aufgrund der möglicherweise kollabierten Stromversorgung und/oder dem Wegfall von Personal durch Verstrahlung und Verletzungen nicht aufrechterhalten werden. Solche Kernkraftwerke werden dann nach und nach havarieren. Dies wird auch bereits stillgelegte Kernkraftwerke betreffen, die als Zwischenlager für radioaktive Abfälle dienen, denn auch die abgebrannten Kernbrennstäbe müssen gekühlt werden. Konkret bedeutet dies, dass sich in einem solchen Fall die nukleare Verstrahlung noch einmal um ein Vielfaches verstärkt.

Eine weitere, die Situation verschärfende Folge einer Kernwaffendetonation ist der von ihr ausgehende Elektromagnetische Puls (EMP), der – je nach der Detonationskraft der Bombe und der Höhe, in der sie gezündet wurde – zu schweren Schäden an allen elektrischen und elektronischen Geräten führen kann bis hin zu ihrer kompletten Zerstörung. Da heute fast alle Bereiche der Infrastruktur von technischen Geräten abhängig sind und diese wiederum von elektronischen Bauteilen (Halbleiter, Kondensatoren), wären die Folgen dramatisch. Es fiele dann, möglicherweise großflächig, die Stromversorgung aus und könnte nicht schnell wiederhergestellt werden. Von ihr abhängig sind sowohl die Wasserversorgung als auch etwa das Funktionieren von Kommunikationstechnik, medizinischen Geräten, Heizungen, Kochgeräten und Produktionsanlagen.

Die Überlebenden
Wie muss man sich nun die Situation der Überlebenden vor Ort vorstellen?
Wenn es – jenseits von Kriegen – derzeit in einer Region zu einer Katastrophe kommt, eilen Hilfsmannschaften aus vielen Ländern der Welt herbei und leisten humanitäre Hilfe. Aber auch in konventionellen Kriegen, wie jetzt in der Ukraine, kann den Überlebenden in der Regel geholfen werden. Häufig gibt es in solchen Fällen noch erreichbare intakte Krankenhäuser und/oder Ärzte, die Verletzte medizinisch versorgen können. Auch Lebensmittel und Wassersind in Maßen noch verfügbar oder können antransportiert werden.
Nach der Detonation von mehreren Atombomben wäre die Lage indessen völlig anders. Schon aufgrund der hohen Strahlung und der Brände können Hilfstrupps aus verschonten Gebieten über Wochen hinweg nicht eingreifen; zusätzlich macht die Verwüstung von Transportwegen Einsätze von außerhalb unmöglich oder überaus schwierig. Druckwelle und Feuersbrünste haben überdies weiträumig Krankenhäuser, Praxen, Apotheken, Feuerwehren und Löschausrüstungen zerstört. Das Ausbleiben von Hilfe bei der medizinischen Versorgung, bei der Bergung von Verschütteten und der Versorgung mit dringend benötigten Gütern wie Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten lässt das Elend der unmittelbar Überlebenden ins Unermessliche steigen.

Sollten gar größere Flächen bombardiert worden sein, wären so viele Menschen betroffen, dass schon das schiere Ausmaß auf Dauer eine Hilfsversorgung unmöglich macht. In diesem Fall wären die Überlebenden auf unabsehbare Zeit ihrem Schicksal überlassen, was die Überlebenschancen noch einmal stark verringert.
Die zunächst Überlebenden sind also in jedem Fall völlig auf sich selbst angewiesen. Dabei sind sie einer Kombination von Belastungen ausgesetzt, die das Überleben zur Qual werden lassen. Dies gilt selbst für diejenigen, die, aus welchen Gründen auch immer, relativ unbeschadet dem Inferno entgangen und zumindest zunächst noch handlungsfähig sind. Sie werden umringt sein von Toten, von unter Trümmern eingeklemmten und schreienden Menschen, von sterbenden Menschen. Und sie werden so gut wie keine Möglichkeiten haben, zu helfen.
Beginnen wir mit den unmittelbaren Auswirkungen, die die Detonation einer Atombombe außerhalb der ersten beiden Radien auf den menschlichen Körper hat.
Da sind zunächst einmal die großflächigen Verbrennungen zu nennen, die der mit der Druckwelle reisende Feuerball allem Leben direkt zufügt und indirekt durch all das, was er in Flammen setzt.

Wer sich nicht gerade in einem Keller, Tunnel oder standhaften Gemäuer befindet, erleidet außerdem allein durch den Druck der Explosionswelle Lungen- und Ohrenverletzungen sowie innere Blutungen.(7) Durch die von der Druckwelle mitgerissenen Scherben, Trümmer und sonstigen Objekte kommt es außerdem zu offenen Fleischwunden, stumpfen Verletzungen, gebrochenen oder auch abgetrennten Gliedern, Quetschungen, verletzten Organen sowie Kopfwunden und Hirntraumata.
Am tückischsten ist aber wohl die sogenannte Strahlenkrankheit, in der es – je nach der Dosis an ionisierter Strahlung, die ein Mensch abbekommt – zu einer Reihe von  schwerwiegenden Symptomen kommt.

Wie oben bereits beschrieben, sterben Menschen, die einer sehr hohen Strahlendosis ausgesetzt sind, binnen Minuten bis Stunden, da es zur sofortigen Abtötung von Zellen oder auch einer so massiven Zellschädigung kommt, dass das Nervensystem kurzfristig komplett kollabiert.
Wer nicht sofort ins Koma fällt und stirbt, wird innerhalb der ersten halben Stunde von großer  Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Benommenheit, Kopfschmerzen, Desorientierung und Schwäche befallen. Mit einhergehen können schmerzhafte Nekrosen und Blasen an Rumpf und Gliedern. Nach wenigen Stunden setzt eine kurze Phase der Besserung ein, auch Walking-Ghost-Phase genannt. Der Begriff spricht für sich. Gleichzeitig ist es eine Phase, die einen Funken Hoffnung da aufkeimen lässt, wo keine ist. Abgelöst wird dieser Zustand von Symptomen, die dem raschen Zelltod im Magen-Darm-Trakt geschuldet sind. Es kommt zu Durchfall, Darmblutungen und schließlich Fieberdelirien, gefolgt vom Koma und dem Tod durch Kreislaufversagen.

Bei einer geringeren Dosis dauern die beschriebenen Symptome bis zu zwei Tagen an. Danach setzt die Walking-Ghost-Phase ein, die 5 bis 14 Tage anhalten kann. Anschließend kann es zu Durchfall und Blutungen in Mund, Nieren und unter der Haut kommen. Die Betroffenen sterben nach maximal 12 Wochen durch innere Blutungen und Infektionen.
Vorausgesetzt wird hier, dass die Erkrankten während dieser Zeit Zugang zu Wasser und Nahrung haben und keine sonstigen schweren Verletzungen erlitten haben.
Wer einer relativ geringen Strahlung ausgesetzt war, durchlebt die beschriebenen Symptome verzögert und weniger intensiv. Die Erholungsphase dauert etwas länger an, ist aber zumeist auch auf 14 Tage beschränkt. Häufig verlieren die Betroffenen am ganzen Körper ihr Haar, und der Verlust an weißen Blutkörperchen ist so hoch, dass sie chronisch ermüdet sind und ein hohes Infektionsrisiko besteht. Erlittene Verwundungen heilen sehr schlecht.
Die Überlebensrate ist hier indessen deutlich höher, innerhalb der ersten 30 Tage sterben ‚nur‘ etwa 10 Prozent der Betroffenen. Die Gefahr, innerhalb der nächsten Monate bis Jahre an Krebs zu erkranken, ist jedoch immens hoch.(8)

Der Zerstörung des Körpers steht die Zerstörung der Umwelt gegenüber. In einer von Atombombendetonationen zerstörten städtischen Architektur sind Orientierung
und Fortbewegung stark erschwert. Dies wie auch der Ausfall technischer Kommunikationsmittel wie Festnetz und Mobilfunk macht die Suche nach Kindern, Partnern, Angehörigen und Freunden zu einem verstörenden, schwierigen und lebensbedrohlichen Unterfangen, denn alle, die sich in den 24 Stunden nach den Explosionen nach draußen begeben, sind dem nuklearen Fallout und damit der Verstrahlung ausgesetzt. Und doch: Zu wissen, wo sich die Nächsten befinden und ob sie die Explosion überlebt haben wird für viele die erste Sorge sein, gefolgt von der um Wasser, Erste-Hilfe-Material und Nahrung. Wer noch handlungsfähig ist, dürfte in den Tagen und Wochen nach der Katastrophe versuchen, überlebenswichtige Dinge dort zu besorgen, wo noch welche zu vermuten sind. Zu welchen Mitteln eventuell gegriffen wird, um dieses Ziel zu erreichen, darüber lässt sich nur spekulieren. Tötung, Selbsttötung – das alles liegt im Bereich des Naheliegenden in einer solchen Lage. Menschen, die ihre Liebsten extrem leiden sehen – an ihren Verbrennungen und Verletzungen, der Verstrahlung, an fehlendem Wasser und Nahrung – könnten beides in Erwägung ziehen. Hintereinander.

Die Versorgungslage ist auf jeden Fall dramatisch. Das, was zunächst in den Ruinen noch auffindbar ist, wird, so es nicht unterirdisch gelagert war, radioaktiv kontaminiert sein. Und sind diese Vorräte aufgebraucht, gibt es keinen Nachschub, da alle sich im Umkreis befindlichen Produktionsstätten und Transportwege verwüstet sind. Selbst wenn das Problem des Transportes gelöst werden kann und Hilfseinsätze möglich wären, birgt der Kontakt zu Verstrahlten auch noch nach Wochen und Monaten für Helfende das Risiko der eigenen Kontamination. Eine solche Hilfeleistung wird folglich bestenfalls für einen sehr kleinen Teil der Opfer erfolgen. Möglich wäre eventuell eine Versorgung aus der Luft. Bei einigen wenigen Angriffen bzw. Atomexplosionen wäre dies noch denkbar, bei einem weitläufigen Atomkrieg indessen kaum.
Vieles hängt also vom Umfang des erfolgten Einsatzes von Kernwaffen ab. Ist dieser, wie es in einem Krieg zu erwarten steht, umfangreich, muss davon ausgegangen werden, dass für die allermeisten Überlebenden die Situation schlicht absolut hoffnungslos ist. Und vermutlich stellt sie sich besonders verzweifelt jenen dar, in deren Obhut sich Schutzbedürftige wie Kinder, Behinderte, Kranke und Alte befinden und Verletzte. Aufgrund von Stromausfall und des oben genannten elektromagnetischen Impulses fallen, wie bereits erwähnt, viele oder sämtliche technischen Kommunikationsmittel aus. Es gibt also auch keine verlässlichen Informationen darüber, wohin man gehen könnte, um der Strahlung zu entkommen bzw. darüber, welche Gebiete nicht oder weniger betroffen sind. Über Geigerzähler, die wichtige Anhaltspunkte für Entscheidungen liefern könnten, werden nur sehr wenige verfügen, und die, die vorhanden sind, werden möglicherweise wegen dem EMP nicht mehr funktionieren.

Der nukleare Winter
Falls sehr viele Atomwaffen zum Einsatz kommen, werden durch die Wucht der Detonationen und die dadurch großflächig entstehenden Brände jede Menge Staub, Rauch und Ruß in die Atmosphäre gewirbelt, so dass wochen- bis monatelang kein Sonnenlicht mehr durchdringt. Es herrscht nun zusätzlich zu Verwüstung und Verstrahlung ein Nuklearer Winter, in dem die Oberflächentemperatur der Erde so stark absinkt, dass das pflanzliche Wachstum daniederliegt und infolgedessen eine Kettenreaktion im Zusammenbruch tierischer wie menschlicher Nahrungsversorgung eintritt. Mit dem Verlust der nahrungsspendenden Ökosysteme werden somit für den Menschen die Überlebensmöglichkeiten aufs Äußerste reduziert. Simulationen und Modellberechnungen, die noch von einer Weltbevölkerung von 6,7 Milliarden Menschen ausgingen (heute sind es mehr als 8 Milliarden), zeigten auf, dass infolge eines Atomkriegs zwischen den USA und Russland in den darauffolgenden beiden Jahren zirka 5 Milliarden Menschen den Hungertod erleiden – zusätzlich zu den durch die Atomexplosionen Getöteten und all jenen, die der Verstrahlung zum Opfer fallen. (9)
Selbst bei einem lokal begrenzten Atomkrieg (wie etwa zwischen Indien und Pakistan) kann ein Nuklearer Winter die Folge sein, der für ein Jahrzehnt weltweit zu Ernteausfällen und damit zu einer erheblichen globalen Nahrungsmittelknappheit führt. (10, 11, 12)

Sind in einem solchen Fall z.B. noch 80 Prozent der bisher vorhandenen Nahrungsmittel verfügbar, könnte man vermuten, dass sich die Folgen halbwegs bewältigen lassen. Doch auch ein solcher Rückgang an Nahrungsmitteln hätte durch die enormen Preissteigerungen soziale Verwerfungen zur Folge. Außerdem würde es für viele der derzeit bereits fast zwei Milliarden(13) Menschen, die unter Mangelernährung oder Hunger leiden, das Todesurteil bedeuten. Zu erwarten wäre überdies, dass pandemisch sich ausbreitende Infektionskrankheiten zu weiteren hohen Opferzahlen führen.
Fällt der nukleare Winter stärker aus und können global z.B. nur noch 20 Prozent der benötigten Nahrungsmittel erzeugt werden, dann wird es um die noch vorhandenen Lebensmittel zweifelsfrei zu gnadenlosen Verteilungskämpfen kommen. Sowohl Individuen als auch Staaten könnten die Anwendung von Gewalt als absolut probates Mittel betrachten, um an überlebenswichtige Grunderzeugnisse zu gelangen, und das ‚Recht des Stärkeren‘ käme wieder direkt, umfassend und überall zum Zuge. Die derzeitigen Gesellschaftsformen könnten nacheinander zusammenbrechen und es wären weltweit kriegerische Auseinandersetzungen jeglicher Form und Tragweite zu erwarten.
Auch wenn bei einem größeren Atomwaffeneinsatz Millionen Menschen sofort sterben und mehrere hundert Millionen in den Stunden, Tagen, Wochen oder Monaten danach ihren Verletzungen und/oder der Strahlenkrankheit erliegen, so würde dies nicht das Ende der Gattung Mensch bedeuten. Es ist der Nukleare Winter, der dieses Ende um ein Vielfaches wahrscheinlicher macht.

Die zunächst Überlebenden werden dann fragen: Warum? Wie nur konnte es soweit kommen? Warum wurde es nicht verhindert? Und vielleicht auch: Warum habe ich widerstandslos den Fortgang der Dinge hingenommen, obwohl ich Hinweise auf die Risiken hatte und wusste, dass dies passieren kann?

Epilog
Die oben dargestellten Szenarien entsprechen dem Stand der Forschung zu den Folgen eines Atomkrieges in der heutigen Zeit. Der aktuell in Europa stattfindende Krieg in der Ukraine muss selbstverständlich nicht nuklear eskalieren. Aber es kann passieren, und es kann innerhalb kürzester Zeit passieren. In einem Krieg, in dem der Einsatz von Nuklearwaffen als Option besteht, könnte das Überschreiten irgendeiner ‚roten Linie‘ oder eine unglückliche Konstellation – wie etwa ein Fehlalarm in einem Frühwarnsystem zusammen mit der Fehlinterpretation weiterer Ereignisse – dazu ausreichen, einen umfassenden Atomkrieg auszulösen.
Der Verlauf von konventionellen Kriegen steckt bereits voller Unwägbarkeiten. Der Verlauf und die Folgen eines Atomkriegs sind indessen völlig unkalkulierbar, denn es gibt keine Präzedenzfälle und keine geschichtlichen Erfahrungen hierzu. Die Abwürfe von zwei relativ kleinen Bomben auf Hiroshima und Nagasaki waren Singulärereignisse, sie besiegelten das Ende des damaligen Krieges und können daher nur sehr eingeschränkt für Einschätzungen eines Atomkriegs in der heutigen Zeit herangezogen werden.
Sicher ist indessen: Entscheidungen oder auch Fehler, die zum Einsatz von Atombomben führen, können nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Die hier beschriebene Situation ist in der Wirklichkeit sozusagen angelegt: der Umschlag von Fiktion in Realität ist wesentlicher Bestandteil der schieren Existenz von Kernwaffen. Eben dies macht sie zu einem so machtvollen, grausamen und unberechenbaren Mittel, das gleichzeitig in einem absoluten Widerspruch zum kollektiven Interesse am Leben steht. Schon allein die Tatsache, dass es die Bombe gibt und ihr Einsatz absichtlich erfolgen kann, zeugt von einem katastrophalen Stand zivilisatorischer Entwicklung. Dass er überdies von zufälligen Ereignissen ausgelöst werden kann, entlarvt jede Argumentation zugunsten der Existenz von Kernwaffen als zutiefst irrational.

Claudia Nelgen und Karl Hans Bläsius

Quellen:
1 https://medavital.de/wirkungen-von-atomexplosionen-feuerball-und-atompilz/
2 http://www.nuclearsecrecy.com/nukemap/
3 https://www.wissen.de/welche-reichweite-und-welches-schadenausmass-haben-atombomben
4 https://www.atomwaffena-z.info/wissen/atombombe/auswirkungen.html
5 https://www.icanw.de/fakten/auswirkungen/druckwelle-hitze-strahlung/
6 https://www.qwant.com/?q=wikipedia+kernwaffenexplosionen&t=web
7 https://www.icanw.de/fakten/auswirkungen/druckwelle-hitze-strahlung/
8 https://de.wikipedia.org/wiki/Strahlenkrankheit
9 https://www.nature.com/articles/s43016-022-00573-0
10 https://www.deutschlandfunk.de/am-beispiel-indien-und-pakistan-studie-berechnet-weltweite-100.html
11https://www.pik-potsdam.de/de/aktuelles/nachrichten/regionaler-atomkrieg-waere-ein-risiko-fuer-die-
globale-ernaehrungssicherheit
12 https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1919049117
13 https://www.oxfam.de/unsere-arbeit/themen/10-gruende-fuer-hunger