Der Redebeitrag der AGF zu 70 Jahre Grundgesetz beleuchtet auch viele kritische Punkte des Grundgesetzes und er Europäischen Union, verbunden mit einem Appell sich gegen Rechtspopulismus und Nationalismus zu engagieren, nicht nur mit der Europawahl.
Rede zum 23.5.2019 in Trier: 70 Jahre Grundgesetz – Bekenntnis für Demokratie und Europa, Markus Pflüger, Arbeitsgemeinschaft Frieden Trier – es gilt das gesprochene Wort.
Es hat viel mit Artikel 4/3 des Grundgesetzes zu tun, dass ich heute hier stehe. Und das hat viel mit meinem Opa zu tun, der mir Nachhilfe in Französisch gab. Es ist mir wichtig, dass wir alles tun, um einen Sieg der Rechtsextremen bei der Europawahl zu verhindern. Und es ist mir wichtig, dass wir für ein ganz anderes Europa streiten. Aber eins nach dem anderen:
Artikel 4/3 ist das Recht den Kriegsdienst mit der Waffe zu verweigern. Dieser Artikel steht bis heute im Grundgesetz, er bezieht sich auf eine Lehre aus dem 2. Weltkrieg: Nie wieder Faschismus, Nie wieder Krieg. Im 2. Weltkrieg wurden Kriegsdienstverweigerer und Deserteure erschossen, hier in Trier z.B. am Grüneberg, da wo heute die Wehrtechnische Dienststelle der Bundeswehr ist. – Stolpersteine erinnern heute an ihre Hinrichtung.
Ich habe den Kriegsdienst verweigert, Zivildienst geleistet und es war meine erstes politisches Engagement für Frieden. Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht, aber in vielen Ländern weiterhin nicht möglich. Mir ist es wichtig, dass es dieses Grundrecht in unserem Grundgesetz gibt. Leider ist es durch eine Gewissensprüfung eingeschränkt und hat einen Zwangsdienst zur Folge, auch wenn die Wehrpflicht zur Zeit ausgesetzt ist. Dieses Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung ist konstituierend für unsere Verfassung, daran will ich heute erinnern – für mich ist es eine Verpflichtung mich gegen die aktuelle Aufrüstung und für Frieden einzusetzen!
Auch der GG-Artikel 26 der einen Angriffskrieg verbietet ist mir wichtig, es gab das Recht den Kriegsdienst zu verweigern, aber keinen Kriegsdienst, keine Armee. Erst einige Jahre nach Gründung der Bundesrepublik wurde 1955 die Bundeswehr im Zuge der West-Ost-Auseinandersetzung gegründet. 1958 wurde der Stationierung von US- Atomwaffen in Deutschland zugestimmt, obwohl bis heute die Mehrheit der Bevölkerung dies ablehnt. Ich wünsche mir, dass wir wieder zum Originalzustand des Grundgesetzes zurückkehren.
Deutschland könnte statt mit Frankreich die militärische Speerspitze Europas zu bilden, Vorbild in Abrüstung und ziviler Konfliktbearbeitung werden. Damit stünden wir auch wieder ganz auf dem Boden des Grundgesetzes mit dem ursprünglichen Friedensgebot sowie der eigentlichen Idee Europas.
Deswegen sammeln wir heute auch Unterschriften unter einem Aufruf an das Europäische Parlament und fordern die EU auf am Friedensprojekt Europa festzuhalten und nicht weitere zur Militärmacht zu werden. Wir fordern: Lassen Sie nicht zu, dass die Europäische Union zur Abwehr von Flüchtenden und Migration Staaten aufrüstet, die Krieg führen oder Menschenrechte verletzen. Stärken Sie die Mittel der Europäischen Union zur Förderung der gewaltfreien Konfliktbearbeitung und der Menschenrechte. RETTET DAS FRIEDENSPROJEKT EUROPA!
Das GG bietet noch mehr, darauf gehen andere ein. Ich will anhand dieser 2 Beispiele nur zeigen, dass das Grundgesetz ein wichtiger Bezugsrahmen für Frieden und Menschenrechte auch in Europa sein kann, obwohl es schon viele Federn hat lassen müssen: es gab mehrere Grundgesetzänderungen, leider war keine von ihnen im Sinne von Freiheit oder Frieden: beispielsweise die Wehrerfassung 1956, die Notstandsgesetze 1968 und die faktische Aufhebung des Asyrechts 1992 von Union, FDP und SP.D Im gleichen Jahr gab das Bundesverfassungsgericht mit der denkbar knappesten Entscheidung 4:4 einen Freibrief für Kriegseinsätze der Bundeswehr.
Wir sollten uns wieder stärker auf die Grundwerte unserer Verfassung besinnen und jeder weiteren Aushöhlung entgegentreten. Recht darf nicht sein, was den Waffen und dem Kapital nützt.
Nochmal zurück zu meinem Opa. Mein Opa war Nazi und landete schließlich als Wehrmachtsoffizier in französischer Kriegsgefangenschaft. Er hat gegen Ende seiner Tage einige erstaunliche Dinge zu mir gesagt. Beispielsweise dass Atomschutzbunker Teil der Kriegsvorbereitung sind und wie er das mit Frankreich inzwischen sah. Ich war in Latein grottenschlecht und wechselte zu Französisch, einfach war das nicht. „Kein Problem“ sagte mein Opa „da helfe ich Dir gerne“. Er konnte durch seine Kriegsgefangenschaft fließend französisch. Er sagte mir: „Es ist wichtig, dass Du französisch sprichst, damit es nie wieder zu so einem Krieg kommt“, er spielte damit auf die deutsch-französische Feindschaft an und pochte auf die europäische Versöhnungspolitik. So lernte ich französisch und ich nutze es auch heute gerne: Ende 2018 haben wir ein grenzüberschreitendes Netzwerk für Frieden und Solidarität gegründet, gemeinsam mit französischen, luxemburgischen, belgischen und saarländischen Gruppen. Das ist meine Grundlage wenn ich an Europa denke. Eine Politik der Verständigung und Versöhnung, Einsatz für Frieden und offene Grenzen – nicht nur für Atommüll und Waren.
Diese Optionen hat Europa auch immer enthalten, bei aller kapitalistischen Wirtschaftsorientierung und Abschottung für Menschen. Doch wenn ich jetzt die Europaflagge sehe denke ich auch an eingesperrte und ertrunkene Flüchtlinge, an tote Kinder am Strand. Und ich sehe die militarisierte Flüchtlingsabwehr FRONTEX, an die Zusammenarbeit mit Despoten und Diktaturen, Hauptsache die von uns mitgeschaffene Armut bleibt vor den Toren oder zumindest unsichtbar. Ich denke an TTIP und CETA, Glyphosat und Subventionen für Agrarfabriken. Ich denke an die Förderung der unverantwortlichen Atomenergie durch EURATOM und spätestens mit der EU-Verfassung wurde auch die Militarisierug der EU dauerhaft festgeschrieben und weiter ausgebaut. Die Europäische Union ist schon länger kein Friedensprojekt mehr. Leider. Aber Europa könnte wieder dafür stehen. Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schreibt: „Europa hat Fehler, Europa macht Fehler, aber der Nationalismus ist ein einziger großer Fehler.“
Und damit komme ich zum letzten Punkt, unserem Einsatz, um einen Sieg der Rechtsextremen bei der Europawahl zu verhindern. Matteo Salvini in Italien, Viktor Orbán in Ungarn, Marine Le Pen in Frankreichund natürlich die AfD – sie fiebern dem 26. Mai entgegen. Europas Rechtsextreme wollen das EU-Parlament handlungsunfähig machen und Europa von innen zerstören, europaweit gegen Minderheiten hetzen und das Klima einer offenen Gesellschaft vergiften. Dem müssen wir uns entgegenstellen und uns für ein Europa für alle einsetzen.
Die EU ist ein global einzigartiges Projekt. Nirgendwo sonst haben sich Staaten darauf verständigt, ihre Souveränität in einer solchen Dimension zu teilen. So können sie Probleme lösen, für die jeder einzelne Staat zu klein geworden ist. Ja das geschieht nicht oft so wie es gut wäre. Trotzdem: Die EU erlaubte Staaten und Menschen, sich tiefgreifend zu versöhnen und den Frieden unter sich zu bewahren – nachdem sie sich über Jahrhunderte bekriegt hatten. Man baute Grenzsicherungen innerhalb Europas ab und gründete einen gemeinsamen Rechtsraum. Das ist auch eine Chance, die Macht der Konzerne und der Finanzmärkte zu begrenzen, eigentlich gehört sie natürlich abgeschafft. Mit der EU könnten wir sie zumindest zwingen, sich klaren Sozial-, Umwelt- und Arbeitnehmerstandards unterzuordnen. Leider sind wir an diesem Punkt noch lange nicht. Die Handelsabkommen der EU, die Politik der Deregulierung und Privatisierung, die Spardiktate gegenüber Südeuropa: Das weist genau in die andere Richtung. Deswegen ist es so wichtig, dass wir gegen die Profitinteressen von Wirtschafts- und Rüstungslobbys die Gemeininteressen der Zivilgesellschaft setzen. Ich will ein paar Ansätze nennen:
1. Dass der Hambacher Wald noch nicht von RWE abgeholzt ist, liegt auch an der Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie der EU. Auf deren Basis stoppten Gerichte den Atom- und Kohlekonzern. Vorerst. Um so wichtiger sich z.B. morgen mit friday for future oder Mitte Juni mit EndeGelände gegen die Abholzung und für ein andere Klimapolitik zu engagieren
2. Dass Datensammler wie Facebook und Google endlich Grenzen aufgezeigt bekommen, ist der neuen EU-Grundverordnung zum Datenschutz zu verdanken – trotz ihrer bürokratischen Fragwürdigkeiten.
3. Dass die Autokonzerne mit ihren Diesel-Stinkern unter Druck sind, ist Folge der strengen EU-Grenzwerte für Stickoxide.
4. Dass Amazon 18 Milliarden Euro Steuern nachzahlen muss, liegt am EU-Beihilferecht gegen illegale Steuervorteile.
5. Dass Unternehmen Menschen mit Behinderungen am Arbeitsplatz bessere Chancen und Freiheiten geben müssen, hat die Anti-Diskriminierungsrichtlinie der EU angestoßen.
Mit einer erstarkten Rechten im Parlament könnten wir diese Liste an progressiven Politikansätzen hier abschließen. Die Rolle des Parlaments als zumindest punktuelles Korrektiv zur neoliberalen Mehrheit – sie wäre dahin.
Für Kritiker der neoliberalen Politik, die Mensch und Umwelt zerstört, bleibt schwer sich positiv auf die EU zu beziehen. Deswegen will ich nochmal klar sagen: Europa verteidigen heißt nicht, die EU beibehalten, wie sie ist. Die EU muss dringend grundlegend reformiert werden. Dafür brauchen wir aber eine Vision eines anderen, gerechteren Europas, die die Herzen der Menschen wieder erreicht :
• Ein Europa der Solidarität statt der nationaler Egoismen
• Ein Europa der Menschenrechte statt der Abschottung
• Ein Europa der Regulierung statt der Konzernmacht
• Ein Europa der Ökologie statt der Klimakrise
• Ein sozialeres Europa und eine Abkehr vom Holzweg der Aufrüstung und Militarisierung
Für dieses andere Europa gilt es zu streiten, die EU-Wahl bedeutet eine Richtungs-entscheidung: Für oder Gegen Nationalismus. Deswegen treten wir für ein anderes, eines gerechteren und friedlicheres Europas ein. Deshalb appelliere ich an alle Bürger*innen Europas: Geht am 26. Mai wählen – tretet aber auch die anderen 364 Tage im Jahr ein gegen Nationalismus und Rassismus: Für ein friedliches und solidarisches Europa! Danke.