Magdalena Palica, die sich auch bei der AGF engagiert berichtet von ihrer Reise von Trier bis zur ukrainischen Grenze und zurück. Verwandten und Freunde einer Freundin haben sich entschieden, aus Kiew vor dem Krieg zu fliehen. Magda hat sich bereit erklärt auszuhelfen mit Übersetzungs- und Fahrdiensten und berichtet von den Ereignissen vom 4. – 7.3.2022. Es ging vorbei an Kriegsgerät, Geflüchteten, Gedenkstätten und Grenzen, und zeigt Beispiele von Solidarität und Menschlichkeit, ein Appell Geflüchtete zu unterstützen.
Von Trier bis zur ukrainischen Grenze und zurück – Ein Bericht. Von Magdalena Palica
Freitag, den 4.03.2022: Ukraine-Krieg, Tag 9.
Ich schäme mich jetzt, wenn ich das schreibe (auf dieser Reise werde ich mich oft schämen müssen): bis 17 Uhr habe ich kaum an den Krieg gedacht. Wir haben eine ganztägige Veranstaltung bei der Arbeit vorbereitet: die Ausstellung ist aufgebaut, die Stationen der Führung fertig. Um 17 Uhr hatte ich noch eine Telekonferenz. Um 17.36 Uhr hat mich die Realität eingeholt, eine Freundin hat angerufen. Ihre Verwandten und Freunde (8 Personen) haben sich entschieden, aus Kiew zu fliehen. Aus gesundheitlichen Gründen kann sie nicht selbst fahren. Ihr Mann, ihr Sohn und ein Freund fahren morgen los. Sie sucht jemanden, der Polnisch spricht und sich vor Ort auskennt, um die Familien aus der Grenze abzuholen. Ich telefoniere mit meinem Mann: klar, keine Frage – wir fahren.
Am Abend suchen wir nach einem Transporter, in Trier gibt es nichts zu finden. Ich poste einen Aufruf über Facebook. Wir haben kein Auto, aber viele Freunde möchten uns helfen: sie übernehmen Fahrt- und Übernachtungskosten, sogar Strafzettel, sollte uns ein Radar erwischen. Uns erreichen viele Unterkunftsangebote in Trier.
Wir packen kleine Koffer: wenige Kleidungsstücke, Reisepässe und zwei Plüschtiere für die Kinder, die wir abholen werden. Wir machen noch eine kleine Einkaufsliste für morgen: 12 Wasserflaschen, 2 Power-Banks, Brot, Äpfel, Schokolade. Ich benachrichtige meinen Arbeitgeber und die Kollegen, dass ich an den darauffolgenden Tagen wahrscheinlich nicht komme.
Mit meiner Freundin telefonieren wir noch abends: morgen fahren drei Züge um 9, 10 und 16 Uhr aus Kiew heraus. Sie versuchen einzusteigen. Ich schätze es für sehr unwahrscheinlich ein und lese abends meine Texte für die Veranstaltung am nächsten Tag.
Samstag, den 5.03.2022: Ukraine-Krieg, Tag 10.
Ich bereite mich für die Arbeit vor und bespreche mit meinem Mann, dass er mich jeder Zeit abholen kann. Ich ziehe mich an (Dresscode „Business Formal“), setzte meinen Fahrradhelm auf und dann kommt der Anruf: die Familien sind mit Autos unterwegs und der Sohn meiner Freundin hat einen VW-Transporter gefunden. Wir verabschieden uns von unseren Kindern und meiner Mutter und fahren los. Eine Cousine in Krakau sucht nach einer Übernachtungsmöglichkeit für 13 Leute, aber es ist schwierig. Es gibt schon viele Leute auf der Flucht.
Auf der A4 sieht man schon den Krieg. Kolonnen von Militärfahrzeugen: Selbstfahrlafetten, mobile Funkstationen, Transporter mit Stacheldraht, Stromgeneratoren, die Zisternen mit Sprit auf der rechten Spur. Leere Busse mit UA-Kennzeichen fahren zurück, humanitäre Hilfe, Rettungswagen mit Kennzeichen aus ganz Europa.
Aus der Ukraine kommen keine guten Nachrichten: die Fahrt durch Kiew geht sehr langsam voran. Es gibt sehr viele Checkpoints und sie können nur bis zur Sperrstunde fahren. Wir entscheiden uns, nicht nach Krakau zu fahren, sondern in Breslau zu übernachten. Wir benachrichtigen eine Cousine, dass sie die Zimmer für 13 Personen stornieren kann.
Ich höre im Kopf, was viele deutsche Freunde zu mir sagen: „Die Ukrainer sollen sich ergeben“. Meine guten Freunde, die gemütlich auf dem Sofa sitzen, während sie die ZDF-Nachrichten anschauen, die Freunde, die keine Angst haben müssen. Meine Wut wächst und ich schäme mich, nicht widersprochen zu haben. Ich denke an die Familien, die auf der Flucht sind. Ich bin in einem totalitären System aufgewachsen. Die Mütter, die jetzt mit ihren Kindern fliehen, auch sie wissen, was die Besatzung Russlands bedeutet. Sie möchten das den nächsten Generationen Ukrainern nicht zumuten. Sie sind bereit, die Männer zu verlassen, um die Kinder in Sicherheit zu bringen.
Wir fahren über die polnische Grenze. Polnische und ukrainische Fahnen, an einer Autobahnbrücke angebracht, begrüßen uns. Die Autobahn sieht wie während der Weihnachtsferien aus: viele internationale Kennzeichen: England, Frankreich, Niederlande, Norwegen, Italien, sogar Spanien und Portugal. Mit zwei Unterschieden: die Leute, die aus dem Autos aussteigen, sprechen kein Polnisch (in der Weihnachtszeit sind das fast nur Polen) und die Kastenwagen transportieren keine Geschenke, sondern ukrainische Männer, die hinten auf den Matratzen hocken.
Wir fahren weiter. Ich schaue zu meinem Mann, der am Steuer sitzt, und stelle mir vor, was die Familien in der Ukraine erleben. Jeder Kilometer Richtung Grenze bedeutet weniger Zeit miteinander. Die Männer müssen nach Kiew zurück. Wir möchten die Familien schnellstmöglich abholen und sind zufrieden, dass die Fahrt auf unserer Strecke gut vorankommt. Was sie fühlen, weiß ich nicht. Sie verlassen die Heimat, die zerstörte Heimatstadt und die Zeit, die sie zusammen als Familien verbringen, wird immer knapper. Sie wissen auch nicht, wo sie übernachten. Bald müssen sie sich trennen.
Abends kommen wir in Breslau an. Das Breslauer Stadion leuchtet Blau-Gelb. Wir übernachten bei einer Schwester meines Mannes, die ein großes Herz und ein großes Haus hat. Sie erwartet uns mit ihrer Familie. Meine Verwandten umarmen uns und erzählen, was sie seit einer Woche für die neu angekommenen Ukrainer in der Stadt machen.
Wir schlafen in den frisch bezogenen Betten. Ich denke an die Flüchtenden: Ich hoffe, dass sie eine Unterkunft gefunden haben. Der Altersunterschied zwischen den jüngsten und ältesten Passagieren beträgt 90 Jahre. In der Ukraine herrschen Minusgrade, Sprit ist knapp und ich hoffe, dass sie nicht in den Autos schlafen müssen. Ich traue mich nicht nachzufragen.
Sonntag, den 6.03.2022: Ukraine-Krieg, Tag 11.
Gute Nachrichten aus der Ukraine: sie haben auf dem Boden eines Restaurants geschlafen und haben getankt. Wir bekommen ein gutes Frühstück und Proviant und ziehen los. Wir telefonieren und erfahren, zu welchem Grenzübergang sie fahren: Hrebenne, ein Dorf mit etwa 300 Einwohnern. 1947 wurden über 700 hier wohnende Ukrainer vertrieben und die Bauernhöfe geplündert. Heute kommen tausende Ukrainer über die Grenze und werden mit dem offenen Armen begrüßt. Die Hilfsbereitschaft ist groß.
Wir haben gehört, dass es bei der Grenze knapp mit dem Sprit sein kann. Wir werden bei Krakau tanken. Wir suchen nach Übernachtungsmöglichkeiten in Ostpolen. Eine meiner Cousinen ist bereit, uns zu beherbergen, aber sie wohnt über 200 km von der Grenze entfernt. Das ist zu weit. Ich rufe Hotels in der Nähe an: alles voll. Aber ein Mitglied unseres Back-office Teams im Netz ein Sommerhäuschen, 25 km von der Grenze entfernt, gefunden. Das ist eine gute Nachricht.
Auf der Autobahn keine Info über die Staus, überall auf der Infotafel nur die Hotline „Helpline for Ukrainian citizens“ und „Solidarni z wolną Ukrainą“ (solidarisch mit der freien Ukraine). Wir halten an einer Tankstelle, sie haben nicht viel Sprit. Eine Tanksäule ist leer, man kann aber an den LKW-Säulen tanken. Als wir 200 km weiter noch an der letzten Tankstelle an der Autobahn anhalten, gibt es zwar kein Diesel mehr, aber zumindest eine Auskunft, wo man noch Diesel bekommt. Man kann inoffiziell in Euro bezahlen, es ist kein Problem.
Richtung Westen fahren durch polnische Polizei eskortierte ukrainische Busse, viele PKWs mit UA-Kennzeichen und polnische Autos mit kleinen ukrainischen Fahnen. Es ist aber keine Fußballmeisterschaft.
Um 15.30 Uhr bekommen wir einen Anruf: sie sind 160 km von der Grenze entfernt und lassen fragen, ob wir bereit wären, ihnen entgegen zu kommen. Wir stellen fest, dass zwei Fahrer keine Reisepässe haben und somit nicht über die Grenze dürfen. Mein Mann sagt zu mir, dass er den VW-Transporter nimmt und ich unser Auto. Ich spüre, wie sich eine Anspannung in meinem Körper ausbreitet. Was, wenn wir uns an einem Checkpoint aus den Augen verlieren. Ich ermahne mich: es gibt keine Kriegshandlungen dort, du hast ein vollgetanktes Auto und einen EU-Pass, also reiß dich zusammen. Dort warten Kinder und Frauen, die sich auf dich verlassen haben. Ich schließe die Augen und denke kurz an meine Kinder und meine Mutter. Ich schäme mich wieder. Es klärt sich bald: wir sollen nicht 100 km von hier bis Lviv (Lemberg) fahren, sondern nur zirka 20 km weit den Stau an der Grenze entlang. Ich atme auf: selbstverständlich, kein Problem.
Ich versuche die Hotline für den Grenzübertritt anzurufen. Es werden lange Wartezeiten angegeben: Autobahnübergang Korczowa 35 Std, Medyka 17 Std., Hrebenne 15 Std. Die Mundpropaganda an der ukrainischen Grenze funktioniert gut. Die Flüchtenden haben eine gute Entscheidung getroffen. Ob wir über die Grenze kommen ist unklar, es hängt von der Lage am Grenzübergang ab. Ich erreiche die Grenzwachen in Hrebenne telefonisch nicht, also wir fahren direkt dorthin.
Es ist erst 18 Uhr, aber schon langsam dunkel, anders als in Trier um diese Zeit. Der Grenzübergang in dieser nicht dicht bevölkerten Gegend ist gut zu sehen: sehr viele Lichter, darunter auch viel Blaulicht. Die Hauptanfahrt ist durch die Polizei gesperrt, hindurch dürfen nur Ukrainer und die humanitäre Hilfe. Wir werden auf einen kleinen Parkplatz geleitet. In Friedenszeiten umfasst dessen Kapazität 30 Autos, aktuell sind es mindestens fünf Mal so viel. Eine Menschenmenge und viele Haustiere ziehen von der Grenze aus los. Grenzwachen helfen: schieben Rollstühle, Kinderwagen, tragen Gepäck. Es gibt viele Polizeiautos, die Familien einsammeln, um sie weiterzufahren. Am Straßenrand stehen unzählige Zelte mit kostenloser Verpflegung, ärztlicher Versorgung, Kleider und Decken, Windeln und Kindernahrung. Viele Freiwillige sprechen Polnisch. Es sind aber auch viele westeuropäische Sprachen zu hören. Feldküchen arbeiten auf Hochtouren: Suppe, Kakao und Tee. Alles kostenfrei. Es herrschen Minusgrade und es schneit. Überall stehen Feuertonnen und Feuerkörbe. Solche Bilder kenne ich nur aus dem Fernsehen. Vor der Schranke stehen unzählige Verwandte und viele Leute mit schnell gebastelten Schildern „Berlin, free ride, 7 seats“.
Ich gehe zu den Grenzwachen, um mit ihnen zu sprechen. Mit dem PKW hereinzufahren, ist nicht möglich, wenn wir keine ukrainischen Pässe oder eine Befugnis haben. Es ist nicht möglich zu sagen, wie lange der Stau ist, die Lage ändert sich dynamisch. Eine gute Nachricht: es gibt einen Shuttle Service, die Busse der polnischen Feuerwehr bringen diejenigen Personen über die Grenze, die mit dem Auto weiterfahren. Die letzte Strecke, zirka 500 Meter, müssen unsere Geflüchteten zu Fuß gehen. Es gibt aber Rollstühle, Kinderwagen und Helfer. Das hatten wir schon gesehen.
Unsere Familie meldet sich, dass sie 35 km von der Grenze seien und Bescheid gäben, wenn sie den Stau erreichen und in den Bus steigen können. Wir fahren zur unserer Unterkunft, 25 km von der Grenze entfernt. Auf dieser kurzen Strecke fahren wir an drei Gedenkstätten vorbei: Vernichtungslager Bełżec (über 400.000 Menschen in den Gaskammern ermordet, überwiegend Juden), Molotow-Linie (Verteidigungssystem der Sowjetunion im 1939 besetzten Ostpolen) und Denkmal in Bachory für die polnische zivile Bevölkerung und Soldaten, die zwischen 1944 und 1947 durch die Ukrainische Aufständische Armee ermordet wurden (annähernd 100.000 Polen).
Jetzt sitzen wir in zwei Autos, Polen und Deutsche zusammen, und werden die ukrainischen Familien abholen. Gibt das uns ein bisschen Hoffnung? Was wir leider bisher gesehen haben, ist das Gegenteil von Hoffnung: Verzweiflung, Ohnmacht, Elend.
Bei unserer Unterkunft werden wir willkommen geheißen. Einfache Verhältnisse, aber große Hilfsbereitschaft: seit Tagen übernachten hier die Geflüchteten, jede Nacht eine andere Familie. Trotz der vielen Menschen und der hohen Fluktuation ist die Bettwäsche frisch gewaschen und gebügelt.
Aber es gab ein Missverständnis, sie dachten, dass wir 8, nicht 13 Menschen sind. Die Matratzen, Decken und Kissen werden also von zuhause gebracht. Als Willkommensgeschenk bekommen ein großes Brot und 5 Kilo Wurst und Schinken, denn der Hausbesitzer ist ein Fleischer. Die Gastgeber erkundigen sich, ob wir Kinder abholen und bringen uns eine Kraftbrühe mit Nudeln. Wir bekommen auch Tee, Kaffee, Zucker und Eier. Sie entschuldigen sich, dass sie nur eine halbe Flasche Milch im Kühlschrank hätten, weil der Dorfladen schon zu sei.
Wir heizen den Ofen mit Holz, das vorm Haus liegt, und essen schweigend. Mein Mann und ich sind Vegetarier, aber diesen Luxus gibt es heute nicht. Wir essen, was da ist: Fleisch und Brot. Wir legen uns kurz hin, andere halten Wache.
Um 23.30 Uhr bekommen wir eine Nachricht: sie sitzen in einem Feuerwehr-Bus. Wir werden hellwach und fahren los. Es ist kurz vor Mitternacht und wir dachten, dass die kleinen Landstraßen leer seien. Vor uns jedoch eine Schlange roter Lichter, viele deutsche Kennzeichen, direkt vor uns jemand aus München.
Es ist kurz vor Mitternacht, als wir die Grenze erreichen. Jetzt ist es viel ruhiger: keine Reporter mehr. Die Freiwilligen wärmen sich an den Feuertonnen, kochen Kakao und Tee, sortieren die Güter für die nächsten, die die Grenze überqueren.
Sonntag, den 7.03.2022: Ukraine-Krieg, Tag 12.
Wir parken schnell die Autos, jetzt wissen wir, wo es die beste Parkmöglichkeit gibt. Es gibt auch deutlich weniger Fahrzeuge jetzt. Wir warten direkt an der Schranke und beruhigen uns. Es schneit. Jetzt kommen deutlich weniger Menschen, Busse und Autos als um 18 Uhr durch, sodass wir uns keine Sorgen machen müssen, dass wir die Familie übersehen. Wenige Minuten später erreicht uns eine Nachricht. Schätzungsweise kommt der Bus in etwa 4 bis 5 Stunden an. Die Busschlange ist auch lang. Wir überlegen, ob wir zurückfahren oder warten. Wir wissen nicht, wie zuverlässig diese Schätzungen sind und entscheiden uns zu bleiben. In einer kleinen Bar, 50 Meter von der Grenze entfernt, vor der wir die Autos geparkt haben, finden wir noch ein Tisch und bestellen heißen Tee. Ich denke an die andere Seite der Grenze und ob sie lange draußen warten müssen. Wahrscheinlich nicht, wir haben gehört, dass sie in den Bussen sitzen bleiben können, bis die Schalter frei sind.
In die Bar kommen Familien herein: Frauen mit Kinder, manchmal mit Großeltern, manchmal mit in Decken gewickelten Käfigen mit Haustieren. Eine Familie kommt hinein und es wird deutlich, dass sie kein Geld haben. Mein Freund gibt der Mutter einen Geldschein und Süßigkeiten, die wir als Proviant gepackt hatten. Andere Bargäste informieren sie, wie sie kostenfrei nach Warschau reisen können und dass sie 50 Meter weiter umsonst Essen und Getränke bekommen. Die Familie bedankt sich und geht raus.
Wir haben viele Stunden todzuschlagen. Ich schaue, was ich in der Tasche habe: Kriegsgedichte von Serhij Zhadan – ich sollte diese Gedichte für eine Solidaritätsveranstaltung lesen. Ich kann mich kaum konzentrieren, aber die Gedichte sind stark. „Nimm die wichtigsten Sachen. Die Briefe zum Beispiel. Nimm die leichten Sachen (…) Wir kommen nie wieder hierher zurück. Wir werden die Städte nie wiedersehen“. Zhadan beschreibt den Krieg im Donbass. Ich habe damals die Nachrichten geschaut, aber mich mit dem Thema nicht wirklich beschäftigt und nichts unternommen, um den Menschen zu helfen. Ich schäme mich jetzt.
Um 2.30 Uhr bekommen wir eine Nachricht: Grenzkontrolle, ukrainische Seite. Wir gehen raus aus dem gemütlichen Raum. Ich habe Schüttelfrost, ein erfahrener Freiwilliger sieht es und gibt mir eine Tasse heißes Kakao. Ich sage, dass er ihn besser für die Kinder behalten soll. Er aber sagt, dass sie ganz viel davon hätten und dass ich Kraft brauchte. Ich bedanke mich.
Kurz danach bin ich bereit, mein kostbares Getränk jemanden ins Gesicht zu schütteln. Nicht weit entfernt steht ein Mann mit einem Schild „JW.ORG“ um den Hals. Er vergewissert sich, ob alle im Auto Zeugen Jehovas sind, weil sie nur Gläubige ihrer Religionsgemeinschaft mitnähmen. Ich bis so wütend, dass mir plötzlich warm wird und ich hellwach werde. Aber dann drehe ich mich um, um meine Energie jetzt nicht sinnlos zu verschwenden.
Ich gehe zu den Grenzwachen, um mit ihnen zu reden. Dort steht eine müde Frau, so alt wie ich, im Kommunismus aufgewachsen und im Kindergarten prorussisch indoktriniert. Sie steht zwei Meter von mir entfernt und ich sehe Angst in ihren Augen als sie sagt, sie wisse nicht, wie lange es diese Grenze noch gibt. Ich denke an die Gedenkstätten, an denen wir vorbeigefahren waren. Mir wird wieder kalt, kälter als vorher.
In 30 Minuten begrüßen wir unsere Gruppe, sie lächeln sogar. Es ist nicht zu fassen, sie haben sich erst vor 3 Stunden von den Ehemännern und Vätern verabschiedet. Sie haben kaum Gepäck. Die Taschen meiner Kinder für das Basketballtraining sind größer. Wir sortieren uns in den Autos. Die Kinder sind ganz brav und ruhig. Wir kommen an unserer Herberge an, essen schnell und die Gäste gehen sich waschen, weil sie gestern keine Möglichkeit dazu hatten. Wir verzichten auf Duschen, wir möchten nicht stören. Wir teilen das Zimmer mit 6 Personen. Wir legen uns mit Kleidung hin. Um 4.30 Uhr geht das Licht aus.
Um 7.30 Uhr stehen wir auf, um heute noch in Breslau anzukommen. Kurz danach bringt der Fleischer einen großen Topf mit: mindestens 10 Liter aromatischer Borschtsch mit Wurst, hartgekochten Eier und Riesenbohnen – eine Ernährung für die Kriegszeit. Ein Teller reicht für den ganzen Tag. Er bringt noch frisches Brot und Brötchen mit. Alle ziehen sich diszipliniert an und frühstücken. Vor uns liegen 1.500 km bis Trier.
Ich habe während der langen Rückfahrt über die Frauen und Kinder nachgedacht, die jetzt das Land verlassen. Viele sitzen an Steuer und fahren an uns vorbei. Sie lassen alles hinter sich, trennen sich von den Männern, um die Kinder in Sicherheit zu bringen. Während ihre Männer für die demokratischen Werte kämpfen, tragen auch sie eine große Last auf den Schultern.
Liebe Trier*innen, ich bitte Sie, diese Frauen mit Respekt zu empfangen, sie zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zu bieten, auf eigenen Beinen zu stehen. Wie ihr Leben in Trier ausgesehen wird und ob sie hier ein Zuhause finden, liegt jetzt auch in unserer Verantwortung – ein Zuhause, wo die ukrainische Sprache und Kultur wertgeschätzt wird. Ich glaube, dass wir das der freien Ukraine schuldig sind.
Fotos und Text: (c) Magda Palica, Trier