Das gab es in der AGF seit dem Kampf gegen die atomaren „Nach“rüstungen in den 1980er Jahren nicht mehr: Wissenschaftler, die vor den Risiken der Waffenentwicklung warnen und hochrangige Militärs, die ihre Meinung abseits des sicherheitspolitischen Mainstreams formulieren – in einer Veranstaltung. So geschehen am 15. März 2023 in der Trierer Tuchfabrik. Die AGF wollte damit „in der jetzigen bedrohlichen Situation über alle Parteigrenzen und weltanschaulichen sowie religiösen Grenzen hinweg den Dialog mit dem Ziel der Deeskalation suchen“ (Richard Pestemer, Vorstand).
Dank Prof. em. Karl Hans Bläsius kamen drei seiner Mitstreiter gegen die Gefahren eines Atomkriegs (aus Versehen) zum Vortrag nach Trier: Prof. Dr. Jörg Siekmann, einer der einflussreichsten Forscher auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz in Deutschland, Brigadegeneral a.D. Reiner Schwalb, einst Militärattaché an der deutschen Botschaft in Moskau sowie Oberst im Generalstab a.D. Wolfgang Richter, früher im NATO-Hauptquartier mit der Rolle der nuklearen Waffen befasst und zeitweise Regierungsberater. Sie alle gebührend zu Wort kommen zu lassen, Raum für Diskussion zu bieten und das zeitliche Limit von geplanten vier Stunden einzuhalten, erwies sich als Herausforderung. Dabei waren die angesprochenen Themen durchaus schwer und boten den anfangs rund 80 Zuhörer:innen wenig Gelegenheit zum Optimismus.
So bekannte Prof. Siekmann auch gleich zu Beginn, dass einige Freunde und Bekannte heute nicht kommen wollten, weil das Thema – zusätzlich zu allen Kriegen und Krisen dieser Welt – zu deprimierend sei. Siekmann zitierte dabei den US-amerikanischen Autoren Noah Chomsky. Der hatte auf die Frage eines Journalisten, was denn nun das weltpolitisch Relevanteste sei, geantwortet: Die menschengemachten Möglichkeiten, das Leben auf dem Planeten zu beenden. Zwei Risiken seien dominant: Klimawandel und Atomkrieg (aus Versehen). Letzteres untermauerte Siekmann durch Einblicke in die Entwicklung der militärischen Frühwarn- und Entscheidungssysteme, berichtete von einer großen Zahl kritischer Situationen, die fast zum Auslösen von Atomwaffeneinsätzen geführt hätten und allgemein-theoretischen Annahmen über die Unmöglichkeit, fehlersichere technische Systeme zu schaffen. Bei allen gegebenen und künftigen Risiken würde Siekmann dennoch ein Apfelbäumchen pflanzen, denn er sei (nein, kein Lutheraner): Buddhist.
Weltanschaulich neutraler entfaltete Prof. Karl Hans Bläsius seine These, dass das Risiko eines Atomkriegs aus Versehen steige und vermittelte Einsichten in eine technologische Zukunft, die für Laien eher nach Science Fiction klang, und dennoch – so Bläsius – schon Realität sei. So etwa die Gefahr von Cyberattacken unter den Bedingungen einer politischen Krise zwischen den Atommächten oder die Einführung autonomer Waffen, die Menschen mittels Gesichtserkennung und Fernsteuerung eigenmächtig töten könnten. Rüstungskontrolle sei in beiden Feldern kaum möglich. Seine Gegenstrategie: Das Vertrauen, die Kommunikation und die Zusammenarbeit der Atommächte auf allen Feldern intensivieren. Selbst privaten Kontakten maß er dabei einen Wert zu.
Die beiden Militärs wandten sich den Problemen des Ukrainekriegs zu. General a.D. Schwalb zitierte Goethe mit dem Bonmot, wer das erste Knopfloch verfehle, komme mit dem gesamten Zuknöpfen nicht zurecht und übertrug das auf die Analyse des russischen Angriffs. Entscheidend sei die richtige Beurteilung der Ursachen des Krieges und sah dabei nicht russischen Imperialismus und Revisionismus als entscheidende Faktoren an, sondern die von der Kremlführung wahrgenommene Bedrohung eigener Sicherheitsinteressen. Das müsse bei der Konfiguration eines späteren Friedens mitbedacht werden. Verhandlungen müssten auf mehreren Ebenen stattfinden: auf der Ebene von USA und Russland, zwischen NATO/USA und Russland im Hinblick auf die Stabilität Europas und schließlich zwischen Russland und der Ukraine mit Hilfe von Mediatoren.
Oberst a.D. Richter sah die nuklearen Eskalationsrisiken auf einem Höchststand seit der Kubakrise 1962 und kritisierte einen Kollaps der Rüstungskontrolle zwischen USA/NATO und Russland. Eskalationskontrolle sei das Gebot der Stunde. Ein russischer Atomschlag – auch mit „kleineren“/taktischen Nuklearwaffen sei hochgradig irrational und bräche das nukleare „Tabu“. Die Bereitschaft, ein solches Risiko einzugehen, nehme aber mit der subjektiven Wahrnehmung existenziellen Bedroht-Seins zu – wenn die Zukunft des Landes oder das politische Schicksal der Führungsriege daran hänge. Richter schätze die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearschlags auf einer Skala zwischen 0 (völlig unwahrscheinlich) und 10 (absolut wahrscheinlich) bei 1-3 ein. Alles über Null sei allerdings politisch überhaupt nicht tolerabel. Es brauche jetzt Rüstungsbegrenzung, strategischen Dialog, Deeskalation und incident prevention (Prävention von Zwischenfällen).
Hier trafen sich die Meinungen aller Referenten. Wie aber können die politisch Verantwortlichen dazu bewegt werden? Wie werden die Ergebnisse dieser Veranstaltung in die Politik transportiert? Die beiden Militärs verwiesen auf ihre politischen Kontakte und ihre Medienpräsenz. Ebenso Karl Hans Bläsius, der seit Jahren mit großer Intensität und zeitlichem Aufwand vor den Gefahren eines Atomkriegs aus Versehen warnt – zuletzt in Gesprächen mit führenden Politiker:innen wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Ihm ist zu verdanken, dass dieses wichtige Thema in der AGF bearbeitet wird (Karl Hans ist Mitarbeiter des Arbeitskreises Abrüstung) und in der Trierer Öffentlichkeit Beachtung findet – zuletzt durch ein ganzseitiges Interview im Leitmedium „Trierischer Volksfreund“ und durch diese Veranstaltung.
Kann die/der Einzelne angesichts der aufgezeigten Bedrohungen etwas Wirkungsvolles tun? Richard Pestemer, Vorstandsmitglied der AGF, brachte es in seinem Diskussionsbeitrag auf den Punkt: Angesichts dieser Kriege, Krisen und krisenfördernden Entwicklungen brauche es einen „anthropologischen Quantensprung“, um das vorzeitige Ende des Planeten abzuwenden. Hier komme es auf Jede:n an. Dem schlossen sich die Referenten an.
Die neue Bildungsreferentin der AGF für Frieden, Katharina Dietze, Dr. Asadeh Ansari-Bodewein (Universität Trier) und Katharina Zey-Wortmann (Katholische Erwachsenenbildung Trier) moderierten die Veranstaltung.
Thomas Zuche